Westerholt

Westerholt gibt es laut Wikipedia in Deutschland gleich mehrfach, ein Westerholt ist seit 1974 Teil der Stadt Herten im nördlichen Ruhrgebiet ein anderes Hauptort der Samtgemeinde Holtriem im Landkreis Wittmund in Ostfriesland. Hier soll es um das zweite Westerholt gehen. Es ist Verwaltungssitz besagter Samtgemeinde und etwas mehr als 10 Km nördlich von Aurich. Westerholt ist die zweitwestlichste Gemeinde des Landkreises Wittmund, der westlich des Landkreises Friesland und nördlich von Aurich gelegen ist. Der Ort hat fast 2600 Einwohner*innen und ist weder Dorf noch Stadt, die gesamt Samtgemeinde hat etwas mehr als 9000 Einwohner*innen. Das Ortsbild und Zentrum Westerholts ist von großen Discountersupermärkten geprägt, es gibt einen sehr großen Aldi, einen nicht minder großen Lidl und diverse andere Einkaufsgelegenheiten mit großzügigen Parkplätzen.

Der Onlineauftritt der Gemeindeverwaltung erinnert an den eines Maklerbüros, „daneben werden die Westerholter Geschäfte auch aus dem Umland wegen der guten verkehrlichen Anbindung und den großzügigen Parkmöglichkeiten im Ortskern zum Nulltarif gerne aufgesucht“ ist dort zu lesen. Und weiter, dass diese positive Entwicklung nur „dank einer vorausschauenden Orts- und Bauleitplanung sowie einer guten Bodenvorratspolitik möglich“[1] war. Baulandflächen werden dann auch gleich an prominenter Stelle des Webauftritts der Gemeinde angeboten und die demnächst kommenden Bauerwartungsflächen werden annonciert. Die Baulandpreise sind günstig und liegen mit etwas über 70,00 € deutlich unter dem durchschnittlich in Niedersachsen aufgerufenen Preis.

Westerholt dürfte nicht die einzige Gemeinde im westlichen Ostfriesland sein, deren Geschäftsmodell das Feilbieten von Bauland ist, sie ist dabei aber, wie es scheint, dabei eine der sehr engagierten. Dabei ist die Gemeinde nun wirklich nicht privilegiert in Hinblick auf ihre Lage. Keine große Stadt ist in der Nähe, einen Autobahnanschluss gibt es nicht, einen Bahnhof ebenso wenig, wie im südlich gelegenen Aurich, der nach Bergkamen zweitgrößten Stadt Deutschlands ohne Personenbahnanschluss. Nach Oldenburg, der nächstgelegenen Großstadt, braucht man mehr als eine Stunde über Landstraßen. Ohne Auto ist von dort aus nicht viel zu unternehmen, um nach Bremen zu gelangen, muss man wohl knapp vier Stunden einplanen, tagsüber, wenn die Anschlüsse optimal sind, wer jetzt, am 06.03.2024 gegen 20.00 losmuss, muss nach Googlemaps etwa 5,5 Stunden einplanen. Wahrscheinlich zählen auch deshalb die Ein- und Ausfallstraßen nach und von Aurich zu den meistbefahrenen Niedersachsens.

Das Ortsbild ist wohl am besten mit dem Adjektiv frugal beschrieben. Ansehnliche Architektur gibt es dort nicht, einige Bauernhäuser und viele Klinkerbauten von der Stange, die durch ein aus dem Stegreif schwer verständliches Netz kleiner und kleinster ineinander verschlungener Wohnstraßen erschlossen sind. Fast alles ist auf das Auto ausgerichtet und um und für das Auto gebaut und tatsächlich braucht man das Auto für alles, so gehören auch flächendeckend mindestens zwei Autos zu jedem Haushalt. Beobachtend lässt mich das da Gesehene etwas ratlos zurück: Ist das noch Zwischenstadt oder ist es doch eigentlich Unstadt: besiedelter bewohnter Raum ohne innere Struktur und mit wenig Gestalt, der da in die friesischen Agrarsteppe hineinwuchert? Für solche Siedlungsstrukturen gibt es keine richtigen Worte oder auch nur statistische Kategorien. Dorf ist es nicht mehr, aber auch nicht Stadt, weder Land- noch Klein- noch Zwischenstadt[2]. Damit gibt es auch keine Diskurse oder soziale oder politische Bemühungen, die solche Strukturen adressieren. Darüber geforscht wird demzufolge auch nicht, weil es von Anfang an an einem Gegenstand mangelt.

Wie wirken solche Räume gesellschaftlich und politisch und welche Gesellschaft und Politik geht von ihnen aus, wo sie doch die Nachteile von Stadt mit denen ländlicher Räume verbinden[3]? Wer dort wohnt, kann auf den Gedanken kommen, dass Gesellschaft wenig für sie/ihn tut und dass Politik einer/m eigentlich nur Straßen schuldet. Die Kanalisation und Erschließung hat man ja schließlich schon selbst bezahlt, wenn man da gebaut hat und Schule jenseits einer Realschule, dafür muss man gut zehn km, zumeist etwas mehr, fahren, mindestens nach Esens oder Norden. Die Kleinstadt als Institution der Bundesrepublikanischen Gesellschaft hat nur seit Kurzem in Witteberge eine Akademie[4], wer oder was aber fragt nach den vielen Gemeinden der hier beschriebenen Größe? Das ist aus meiner Sicht ein Problem, weil geschätzte 10 % der Wohnbevölkerung Deutschlands in solchen Siedlungsstrukturen leben. Sie leben damit an Orten von denen man als junger Mensch mit Ambitionen vermutlich nur weg will und angesichts derer man denkt, das Leben und Wichtiges stets woanders stattfindet.

Geht man davon aus, dass es viele Hunderte solcher Gemeinden gibt, wird deutlich, welch raum- und verkehrspolitisch und auch politisch retardierende Wirkung von ihnen ausgehen muss. Es kommt hinzu, dass dem Deutschlandatlas zufolge der Westerholt-Holtriem umgebende Landkreis Wittmund zu denjenigen Kreisen gehört, in denen vergleichsweise viele Wohnungen fertiggestellt werden[5], rechnerisch mehr als in Berlin, Hamburg oder gar Bremen. Es fällt mir schwer zu sagen, was dies für Raumentwicklung heißt, dass die meisten Wohnungen da fertiggestellt werden, wo sie eher am wenigsten gebraucht werden. In Hinblick auf Flächenversiegelung, das Ziel sie zu begrenzen, heißt das, dass sie weitgehend ungesteuert verläuft. Dem Einhalt zu gebieten, dürfte nicht die Priorität solcher Gemeinden sein und es ist kaum anzunehmen, dass es für Landrät*innen naheliegend ist, mit solchen Gemeinden in die Diskussion über Flächenverbrauch einzutreten. Womöglich geht ein nicht unerheblicher Teil dessen, was wir heute als politische Ratlosigkeit erleben, von solchen Orten aus.

[1] Vergl. die Homepage der Gemeinde,  url: https://gemeinde-westerholt.de/geschichte-ueber-westerholt/, Zugriff am 12.03.2024. Als Quelle für den Text gibt die Webseite der Gemeinde „Harm Poppen“ an.

[2] Vergl. https://metropolitics.org/Zwischen-Stadt-und-Land-die.html

[3] Es gibt in Deutschland etwa 3550 Gemeinden mit mehr als 2000 aber weniger als 10.000 Einwohner*innen, vergl. statista.de, Anzahl der Gemeinden in Deutschland nach Gemeindegrößenklassen, url: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1254/umfrage/anzahl-der-gemeinden-in-deutschland-nach-gemeindegroessenklassen/, Zugriff am 12.03.2024.

[4] Wittenberge ist es vermutlich nicht zufällig Standort der Kleinstadtakademie geworden. Schließlich halten dort manche ICEs und sämtliche ICs von Hamburg nach Berlin. Vergl url: https://www.kleinstadtakademie.de/.

[5] Die einschlägige Karte findet man da: https://www.deutschlandatlas.bund.de/DE/Karten/Wie-wir-wohnen/047/_node.html .