Wall ohne Blech. Wie eine Straße zum Ort werden kann

Stadt als sozialen Raum zu denken, fällt der Politik der Städte schwer. Dies gilt  insbesondere für die deutschen Städte. Gestalterische Chancen bleiben liegen oder werden gar nicht erst als solche erkannt. So kristallisiert sich auch verkehrspolitisch immer mehr heraus, dass Deutschland ein Nachzüglerland ist, Erfolge der westlichen und nördlichen Nachbarländer wollen sich hierzulande einfach nicht einstellen. In den meisten deutschen Städten gibt es hier immer wieder Streit, der durchaus heftiger ausfallen kann. Hier in Bremen z. B. um den Wall, die Domsheide und die Glocke, um die Platanen am Fluss oder um den Sielwall. Immer wieder geht es um Straßen und Plätze, die zu sehr als Verkehrs- und zu wenig als Lebensraum gesehen werden, es geht um die Ansprüche von Barrierefreiheit, Kultur, Verkehr, Klima- und Hochwasserschutz.

Und immer wieder geht es darum, dass es einfach nicht gelingen will, dem motorisierten Individualverkehr Flächen zu entwinden. Deshalb wird hier darum gestritten, eine Straßenbahnhaltestelle zu verlegen, da geht es um Straßenbäume, die zu lieben die lokale CDU im Bremer Osten bekundet hat, genau in dem Moment, als eine Lücke im Straßenbahnnetz zugeknüpft werden soll. Eine Fahrradspur neben einem Radweg oder die Frage, ob eine Straße in Regenbogenfarben angemalt werden darf, sind andere Streitpunkte. Die Stadt mit ihren Fragen, Ansprüchen und Ideen steht immer wieder da als Gegenstand einer Vielzahl behördlich-bürokratischer Gewerke. Und sie steht einem parlamentarischen Betrieb gegenüber, der mit dieser Art von immer wieder bezugloser Komplexität, bürokratischer Geschäftigkeit oder künstlerischen Ideen wenig anzufangen vermag. Den parlamentarischen Kontrollobliegenheiten gegenüber den senatorischen Behörden nachzukommen, fällt in diesem Durcheinander der Interessen, Ideen und Belange allzu oft schwer.

Stadt zerfällt damit in eine Vielzahl technisch-bürokratischer Gegenstände, deren Zusammenhang niemand wirklich denkt. Und dies sowohl in den Verwaltungen als auch im Zusammenspiel der Verwaltungen miteinander. So fokussiert die Senatsverwaltung für Klimaschutz, Umwelt, Mobilität und Stadtentwicklung nahezu ausschließlich auf  Verwaltungs-, Umwelt-, Klimaschutz- oder Verkehrsbelange – und eben fast nie auf Stadtentwicklungsbelange[1], was immer wieder zum Problem wird. Erschwerend kommt hinzu, dass in einem kleinen Stadtstaat wie Bremen Grundsatzabteilungen der Senatsverwaltungen fehlen, bei SKUMS gibt es auch keine.[2] Das führt dann regelmäßig dazu, dass das übergeordnete Ziel, wo man eigentlich hin will, aus dem Fokus gerät. Damit fehlt eine einigende, übergreifende Klammer, die die Aktivitäten der Abteilungen der Verwaltungen integriert, bündelt und auf ein Ziel hin ausrichtet. Dies vielleicht auch deshalb, weil die Ziele nie entwickelt worden sind, weil sie zu entwickeln einfach die Zeit fehlte.

So sind dann auch die Debatten, die die Stadt durchfurchen, entweder von Langeweile und Immergleichem oder von schier kaumüberwindlichen Antagonismen geprägt. Stillstehende jammerige Selbstbeschmähungen als Bremenbewohner*innen folgen auf von der Peripherie gedachten Argwohn gegen die innere Stadt, die alles bekomme, während man selbst da am Stadtrand stets zu kurz komme. Bei all dem geht es darum, wie schlimm Bremen sei. Eine Jammerkultur bürgerlicher Kreise sieht Bremen als failed City, als Stadt der Roten Laternen und steht einer zum Teil sachblinden narzisstischen Provinzialität ihrer Counterparts, die in Bezug auf ihre Stadt einen gallisches Dorf Romantizismus kultivieren, gegenüber.

Völlig festgefahren streiten die Lager der Stadt seit Monaten über die Martinistraße, die Frage, ob es hülfe, die Straßenbahn aus Obernstraße und Marktplatz umzuleiten, als sei das Problem der Bremer Innenstadt, dass durch ihre Herzkammern eine Straßenbahn durchfährt und nicht mangelnde urbane Resilienz. Leider ist niemand da, der die losen Enden und Stränge aufnähme und zu einem überzeugenden Bild verknüpfen oder die Diskussionen gar moderieren würde. Ein Hoffen auf die Innenstadtintendanz kann diese Vakua kaum füllen, wie auch überhaupt das Hoffen auf das Fertigwerden von irgendetwas zu viele Planungs- und Diskursleichen in ihrem zombifizierten Status erhält: So hoffen wir auf das Hulsbergviertel, auf die A 281, auf das Ende der Coronakrise, um das durchhängende Steintor, den vor sich hin dümpelnden Lüneburger Platz, die Durchfahrtsituation durch die City und den Flughafen zu retten. Zu oft aber fungiert dieses Hoffen als Rechtfertigung von Untätigkeit und Staatsabwarten.

Über all diesem Abwarten thront ein Kümmerer ohne Richtlinienkompetenz aka Regierender Bürgermeister, der vor allem in zwei Jahren wiedergewählt werden will. Womit, warum, wofür und weswegen ist ihm, wie es scheint, zweitrangig, solange das mit dem Wiedergewähltwerden gelingt. Und leider agiert die Senatsverwaltung, deren Aufgabe es wäre, die Fäden der Stadt miteinander zu verweben, nicht in jeder Hinsicht glücklicher. Ihre Abteilungen und Aufgabenfelder stehen manchmal zu unverbunden nebeneinander und die Prozesse dauern immer wieder zu lange, um sich mit allgemeinmenschlichen Aufmerksamkeitsspannen zu verbinden. Dass Infrastrukturprojekte wie z. B. Fahrradbrücken in Deutschland schon einmal 10 Jahre dauern können, ist dieser Verwaltung nicht vorzuwerfen. Da ist das deutsche Planungsrecht und insbesondere das Einspruchs- und Ausschreibungsrecht davor. Aber dass an der Martinistraße Versuchsphase auf Versuchsphase durchgeschoben wird, ohne dass wirklich erklärt würde, was genau da beim Versuchen untersucht wird, u. a. weil die dabei untersuchten Fragen verkehrspolitische Nerdaspekte, aber keine die öffentlichen Angelegenheiten betreffenden Fragen behandeln, könnte man dem Haus schon vorwerfen. Freunde der Windschutzscheibenperspektive tippen sich deshalb beim erregten Verfassen ihrer Weserkurierleserbriefe die Fingerkuppen wund. Und die Senatsverwaltung macht es ihnen mitunter zu leicht, sich aufzuregen und hat leider manchmal nicht hinreichend starke Argumentationen auf ihrer Seite, warum sie jetzt etwas so und nicht anders machen. Auf Seiten der Behörde fehlt m. M. n. eine vermittelnde Stimme, die gegenüber der Stadtöffentlichkeit die Rolle eines Conferenciers einnehmen könnte, nicht wie ein Pressesprecher (den gibt es ja schließlich), sondern wie eine erklärende Instanz, die die Versuchsfragen vermittelt und erinnert, welche relevanten Fragen da untersucht werden.

Warum es diese Stimme nicht gibt, weiß ich nicht. Vielleicht weil die Angst, wirklich zu sagen, was das übergeordnete Ziel ist, nicht weggehen will. Der Elefant im Raum ist schließlich die Ineffektivität aller bisheriger klimaschutzorientierten Verkehrspolitik in Deutschland, der es bis heute nicht gelingen will, den Trend und die Neigung zum individuell besessenen Pkw zu brechen. Eine Trendumkehr beim PKW-Bestand gibt es bislang nicht. Gerade wieder gingen neue Zahlen des Kraftfahrtbundesamtes durch die Medien und danach hat insbesondere der Bestand an Zweit- und Drittwagen der Haushalte zugelegt. Diesen Trend zu brechen hätte aber zur Voraussetzung, dass die Koalition sich miteinander ehrlich macht und klarstellt, dass es neuen Raum der Stadt nur dann geben kann, wenn man ihn dem Auto wegnimmt. Insbesondere von der SPD würde das verlangen, ihrer Klientel zu erklären, dass sie nicht mehr der Puffer sein werde, der den status quo des Verkehrswesen vor klimaschutzpolitisch motivierter Veränderung stützt. Und von den Grünen wäre verlangt, gute Dinge erst dann in die Hand zu nehmen, wenn man einen Plan hat, den man auch in einem überschaubaren Zeitrahmen umsetzen kann. Das würde heißen, eine Veloroute am Wall erst dann zu finalisieren, wenn man die Fahrradbrücken klarhat. Unter Verweis auf ein Fahrradbrückenkonzept eine Bike Lane neben einem bestehendem Radweg anzulegen, wenn die Brücken des Konzepts frühestens in 6 Jahren da sein werden, ist in diesem Zusammenhang nicht ohne weiteres geeignet, moderativ zu wirken.

Die Selbstunsicherheit der Grünen und ihrer Verwaltung spürt man bei den anderen Parteien und nutzt die Gelegenheiten. Nicht zuletzt deshalb stellen sich ein fachopponierender Koalitionsfreund vor eine Butenunbinnenkamera am Wall und beschwert sich als Fraktionsvorsitzender der den Regierenden stellenden Regierungspartei, man habe ja gar nicht gewusst, was SKUMS da plotte. Und auch die Wirtschaftsfachfrau der anderen Regierungspartei knödelt, dass das alles so ja nun auch irgendwie nicht so wirklich gut sei. Konstruktive Solidarität und gemeinsame Verantwortungsannahme in einer Koalition sieht jedenfalls anders aus. Wieder also zerredet die Stadt eine Chance zu Tode und einer ihrer Politiker benutzt die Situation vor allem als Gelegenheit, Opposition in der Regierung zu sein.

Dabei gäbe es, den Wall (und viele andere Straßen) betreffend, so viel zu besprechen. Als normale Geschäfts- und Durchgangsstraße hat der Wall ohnehin nie besser als mittelgut funktioniert. Nie konnte die Straße ihre Potentiale ausspielen. Die seltene Lage, die Kante einer Innenstadt direkt auf einen Parkring treffend zu sein, wurde seit Jahrzehnten verschenkt zugunsten einer immer zu schmalen Autorollbahn, die den Verkehr in den umgebenden Stadtraum zu verteilen hatte. Die Straße schnitt die Stadt vom Parkring ab und erzeugte an ihrem Rand eine dunkle, baumbeschattete Hinterhofrückseitensituation. Die Aufenthaltsqualität am Rand der viel zu viel befahrenen Straße zog niemanden an, wer da war, durchmaß den Raum, um irgendwo hinzugelangen. Schlimmer noch, dass eine absurde Hochstraßenkonfiguration aus den 1970er Jahren den Park volllärmte und einen vollends unwohnlichen Stadtraum an einem Teilstück des Walls schuf.

Wie schön es doch wäre, das alles zu ändern und der Situation da mehr Sinn zu geben. Die Hochstraße sollte sich in einen hängenden Garten verwandeln, begrünt werden, der Rest des Walles ließe sich in eine Promenade verwandeln auf der nur noch fährt, wer da wohnt oder vormittags dorthin liefert. Davon abgesehen, wäre da Raum für städtisches Leben am Park. Ich stelle mir einen landschaftsarchitektonischen Wettbewerb vor, der den neugewonnen Raum entwickelt und so zur Resilienz des Bremer Kerns beitrüge, indem er ihm ein Schale gibt. Ob dieser Weg dann Teil eines Premiumroutennetzes wäre, oder in sechs, sieben, acht Jahren vielleicht wird, man muss es heute gar nicht wissen.

Ausgehend von der Verlebendigung des Walls ließen sich die Übergänge zwischen City und angrenzenden Stadtteilen anders denken und nicht nur als Wallanlagendurchbrüche für Autos erleben. Für SKUMS würde ich mir wünschen, dass sie eine synthetisierende Stimme finden und ihre bürokratischen und planenden Gewerke orchestrieren und in ihrem Akronym nicht nur das erste S (Verwaltung) stark sein zu lassen, sondern auch das letzte (Stadtentwicklung). Denn irgendjemand muss Stadt entwickeln, neudeutsch kuratieren, denn das passiert nicht von selbst und an eigenen Belangen orientierte Bauherr*innen machen das nicht.

Ich würde mir wünschen, dass die Stadt ihre Räume entdeckt und sich darüber im Klaren wird, welche Wartehoffnungsareale es noch gibt und wie diese Hoffnungshorizonte mit Planungshorizonten und vor allem allgemeinmenschlichen Aufmerksamkeitsspannen korrespondieren. Wenn da dann etwas nicht stimmt, müsste man darüber sprechen; nicht Sprechen im Sinne eines Dialoges der Verwaltungen miteinander oder gegeneinander, sondern im Sinne eines Dialoges mit den Menschen auf der Straße und in den Häusern. Dann würde ich mir wünschen, dass diese Dialoge nicht aus der Perspektive der verfügbaren Lösungen geführt werden, sondern an den vorliegenden Problemen orientiert sind. Weil dann einerseits ein Zustand aufgehoben werden könnte, der allzu oft darauf hinausläuft, dass Lösungen der Verwaltungen die Stadt auf der Suche nach Problemen, die sie lösen können, durchstreifen. Denn es gibt zu viele stadträumliche Situationen, deren Problemstruktur nicht so recht zu den verfügbaren Instrumenten passt, und die derzeit mit nicht unerheblichem diskursivem Aufwand ignoriert werden.

Solch eine Situation gab es z. B. am Wall zu lange und alle hatten sich daran gewöhnt. Das muss sich ändern.

 

 

[1] Darunter versteht man dort das Bauen von Wohngebäuden, bzw. das Monitoring dieses Bauens und die Erstellung eines Zentrenkonzepts und das Arbeiten an all den nötigen Planwerken. Auch Stadtentwicklung zerfällt somit in eine Vielzahl administrativer Gewerke.

[2] Vgl. das Organigramm des Hauses: https://www.bauumwelt.bremen.de/sixcms/detail.php?template=20_search_d&search%5Bsend%5D=true&lang=de&search%5Bvt%5D=Organigramm